Kapitel 38

Reginald zwang sein Pferd zum Galopp, um so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und Westcotts Ranch zu bringen. Er war erleichtert gewesen, als er gesehen hatte, dass das Mäuschen von einer Lehrerein alles andere als eine gute Reiterin war. Fast hätte er lauthals losgelacht bei dem Anblick, wie sie mit dem Balg langsam über die Prärie getrottet war. Er wäre vermutlich schon fast bei der Blockhütte, bis die Frau endlich zu Hause ankam, um die Botschaft zu überbringen. Dazu kam, dass ihre kurzbeinige Stute nicht viel größer als das Pony seiner Nichte gewesen war, also würde sie, selbst wenn sie aus ihrem Trott ausbrach, nicht schnell vorwärtskommen.

Es war eine Schande, dass er nicht eines seiner Jagdpferde hier hatte. Mit einem seiner geschmeidigen Thoroughbreds würde er nur so über diese braune Einöde hinwegfliegen.

Gab es denn nichts Andersfarbiges hier in diesem Land? Sogar sein Pferd war braun. „Ein von Cowboys gerittenes Pony“ hatte der Verkäufer es genannt. Reginald schnaubte. Edelmänner ritten keine Ponys. Sie ritten Pferde – große Pferde, deren Blutlinien über Generationen hinweg verfolgt werden konnten, keine untersetzten Tiere, von denen man nicht einmal wusste, aus welchem Stall sie stammten. Unehrenhaft. Wenigstens schien das Vieh unter ihm sich nichts aus dem zusätzlichen Gewicht des Kindes auf seinem Schoß zu machen.

Er lenkte sein Pferd nach Nordwesten und ritt über das endlos flache Land. Als er sich umsah, bemerkte er im Augenwinkel einen schwarzen Blitz. Er verrenkte den Hals, um einen besseren Blick zu haben, und fluchte.

Diese Schlange!

Nicht nur, dass sie seine Anweisungen völlig ignoriert hatte, nein, sie besaß auch noch die Unverschämtheit, so zu reiten, als sei sie im Sattel geboren. Sie war keinesfalls die steife Gouvernante, die sie ihm vorgespielt hatte. Und was noch schlimmer war, sie holte ihn ein.

Er gab seinem Pferd die Sporen. Das Tier preschte so schnell vorwärts, dass Isabella zu schreien begann. Reginald ignorierte die Angst seiner Nichte und zwang das Pferd, noch schneller zu rennen. Immer wieder schaute er sich um. Diese lästige Lehrerin hing an seinen Fersen und kam immer näher. Sein Pferd musste das doppelte Gewicht wie ihres tragen, was ihr einen entscheidenden Vorteil verschaffte.

Sein Tier stolperte und Reginald richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Das Pferd hatte sich wieder gefangen, schien jedoch langsam müde zu werden. Schweiß bildete sich auf seinem Hals. Reginald knirschte mit den Zähnen. Dieses Mädchen würde ihn einholen.

Es war Zeit, in die Offensive zu gehen.

Reginald lenkte sein Pferd herum, bis es parallel zu ihrem lief. Dann lockerte er den Griff um seine Nichte und nahm die Zügel in die Linke, um seinen Revolver zu ziehen. Er verlangsamte das Pferd zu einem leichten Galopp und streckte seinen Waffenarm über Isabellas Kopf hinweg.

Er betätigte den Abzug. Der Schuss ging viel zu hoch. Reginald machte ein finsteres Gesicht. Die abgebrühte Frau hatte nicht einmal gezuckt, geschweige denn, ihr Tempo verringert. Stattdessen beugte sie sich nur tiefer über die Mähne ihres Pferdes, um ein kleineres Ziel abzugeben, und folgte ihm weiterhin. Unermüdlich. Wie ein Hund auf einer Fuchsjagd.

Ein Grollen entstieg seiner Kehle. Warum wurde er mit solchen aufmüpfigen Frauen gestraft? Zuerst Lucinda, die mit seinem Vermögen verschwunden war, bevor sie dem Gift erlegen war, das er ihrem Körper so geduldig zugeführt hatte. Und jetzt diese dreiste Lehrerin, die doch tatsächlich zu glauben schien, dass sie ihn aufhalten konnte. Doch sie wusste nicht, mit wem sie sich angelegt hatte. Reginald Petchey kapitulierte vor niemandem, vor allem nicht vor einer kleinen amerikanischen Schlange, die ihre eigene Bedeutungslosigkeit nicht wahrhaben wollte.

Er nahm sie noch einmal ins Visier und zielte auf ihren auf und ab fliegenden Kopf, der dicht über dem Hals des Pferdes hing. Seine Jagdinstinkte ließen ihn alles andere um sich herum vergessen. Der Rhythmus ihrer beiden Pferde jagte durch seinen Körper. Er konnte seine Bewegungen genau darauf abstimmen. Sein Finger am Abzug spannte sich. Doch Isabella schlug mit ihrem Kopf gegen seinen Arm. Sie fing wieder an, so heftig zu strampeln und zu schreien, dass er sein Ziel nicht fixieren konnte.

„Sei still oder ich lass dich fallen“, brüllte Reginald. Das Mädchen jammerte und bedeckte die Augen mit ihren Händen, aber sie hörte auf zu zappeln. Doch er vertraute ihr nicht. Er lenkte seinen Blick auf ein größeres Ziel.

Der Schuss löste sich lautstark. Der Rückschlag warf seinen Arm nach oben, doch er spürte es, dass der Schuss sein Ziel gefunden hatte.

Die schwarze Stute stolperte mit der Nase voran in ein Loch und warf ihre Reiterin mehrere Meter weit durch die Luft.

Befriedigung durchströmte ihn. Er verlangsamte den Schritt seines Pferdes und vergewisserte sich, dass er von der nervtötenden Lehrerin nichts mehr sah. Nichts. Vielleicht war sie sogar tot. Er konnte es nur hoffen.

Reginald nahm sich nicht die Zeit, die Sache genauer zu untersuchen. Ob sie tot, verletzt oder einfach nur abgeworfen war, zählte nicht. Sie würde ihm nicht weiter folgen.

* * *

Gideon saß an seinem Schreibtisch und schrieb einen Brief an seine Eltern. Falls sie den Brief mit seinen letzten Wünschen, den James ihnen geschickt hatte, nicht schon bekommen hatten, würden sie ihn sehr bald erhalten. Er wollte ihnen versichern, dass er sich mittlerweile gut erholt hatte.

Und wenn dieser zweite Brief sie erreichte, bevor sie nach Amerika aufbrachen, wollte er seine Mutter noch um einen Gefallen bitten. Er wollte die Erlaubnis haben, seiner Braut den Topasring zu schenken, der einmal seiner Großmutter gehört hatte. Er konnte es kaum erwarten, ihr diesen Ring an den Finger zu stecken. Seine Mutter hatte eine ganze Sammlung von Ringen mit den kostbarsten Edelsteinen, die sie ihm angeboten hatte, falls er einmal heiraten würde, doch dieser schlichte Stein passte am besten zu Addie. Sein warmer Schimmer spiegelte ihren Charakter wider und die Art, wie sie Freude an einfachen Dingen fand. Außerdem war er gelb. Gideon grinste. Ein passender Schmuck für seinen Sonnenschein.

Er senkte seinen Blick auf den Brief vor sich und las noch einmal alles, was er geschrieben hatte. Dann nahm er seinen Füllfederhalter, um seinen Namen darunterzusetzen. Er hatte gerade erst ein großes G zu Papier gebracht, als schwere Schritte den Flur entlanggerannt kamen.

„Señor … Señor Westcott!“

Miguels dringliche Rufe ließen ihn aufschrecken. Gideon ließ den Federhalter fallen und sprang auf.

„Hier drinnen!“

Er verzog das Gesicht wegen der Schmerzen, humpelte aber weiter in Richtung Tür. Miguel traf ihn dort. James kam die Treppe hinuntergerannt.

„Was ist los?“, rief sein Freund.

Gideons Augen durchbohrten seinen Vorarbeiter, während er die Frage ruhiger wiederholte.

„Das kleine Pony der Miss … Es ist ohne die niña zurückgekommen.“

Gideons Magen zog sich zusammen, doch er kämpfte die Panik nieder. „Irgendein Zeichen von Adelaide oder ihrem Pferd?“ Addie hätte Bella sofort nach Hause gebracht, wenn die Kleine abgeworfen worden wäre.

„Nein, patrón. Ich bin losgeritten, um zu sehen, ob jemand verletzt ist, aber ich habe sie nicht gefunden. Ich habe etwas anderes gefunden.“ Miguel zögerte, als wolle er den Rest nicht verraten.

Gideons Muskeln spannten sich an. „Was?“

„Drei verschiedene Spuren.“

Eine unheilvolle Ahnung machte sich in ihm breit. „Sattel mein Pferd, Miguel. James, hilf mir nach oben, damit ich meinen Revolver und die Stiefel holen kann.“ Gideon hatte sich schon in Bewegung gesetzt und humpelte, so schnell er konnte, zur Treppe. James hielt ihn an der Schulter fest.

„Du kannst nicht ernsthaft annehmen, dass du ihnen folgen kannst, Gid. Du kannst in deinem Zustand doch nicht reiten. Lass Miguel und mich nach ihnen suchen.“

Sie erreichten die oberste Stufe. Gideon sah seinen Freund durchdringend an. „Es geht um meine Frau und meine Tochter, James. Ich werde mich durch nichts abhalten lassen.“

James schüttelte den Kopf und führte Gideon zu seinem Zimmer. „Ich wusste, dass du das sagen würdest.“

„Es ist Petchey, James. Er muss es sein.“ Vorwürfe nagten an ihm und quälten ihn mit schrecklichen Bildern, was seinen Mädchen zugestoßen sein könnte.

Wie hatte er so dumm sein können? Gideon stieß mit seinem rechten Fuß in den Stiefel und genoss den Schmerz. Petchey hatte sich wochenlang versteckt. Dann tauchte er plötzlich auf der Ranch auf, um Gideon anzubetteln? Das war alles nur ein Spiel gewesen. Miguel hatte beobachtet, wie er den Zug genommen hatte, doch der Verräter war zurückgekehrt.

Gideon zog auch den linken Stiefel an und nahm seine Waffe zur Hand. Er würde Addie finden. Bella auch. Es würde ihnen gut gehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Sturz ins Glück
titlepage.xhtml
Witemayer, Sturz ins Glueck.html
Section0001.xhtml
Witemayer, Sturz ins Glueck-1.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-2.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-3.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-4.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-5.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-6.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-7.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-8.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-9.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-10.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-11.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-12.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-13.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-14.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-15.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-16.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-17.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-18.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-19.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-20.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-21.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-22.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-23.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-24.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-25.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-26.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-27.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-28.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-29.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-30.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-31.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-32.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-33.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-34.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-35.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-36.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-37.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-38.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-39.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-40.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-41.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-42.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-43.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-44.html
Witemayer, Sturz ins Glueck-45.html